Moral in Computerspielen

Emotionale Achterbahn

01.06.2010
Was ist richtig, was ist falsch? Oft keine leichte Frage. Aktuelle Computerspiele zwingen Spielende zu schwierigen Entscheidungen, die auch die Handlung nachhaltig beeinflussen können. Ethische Konflikte und Grenzerfahrungen inklusive.


Der Mensch hat eine ungefähre Vorstellung von Moral. Moralisch Handeln wird von der Gesellschaft als „richtig Handeln“ definiert. Gewalt sowie unsittliches und gesetzeswidriges Verhalten sind ein Verstoß gegen unsere Moralvorstellungen.
Auch in Computerspielen sind moralische Entscheidungen nicht neu. Vor allem bei Rollenspielen wie Fable oder Mass Effect kommen sie in Form von Gesinnungsbestimmungen zum tragen. Die Spielenden entscheiden sich in ihren Taten und der Art und Weise, wie sie mit anderen Charakteren im Spiel kommunizieren, entweder für das „Gute“ oder für das „Böse“. Das wiederum spiegelt sich dann im Äußeren des Hauptcharakters wider beziehungsweise in dem Verhalten anderer Spielfiguren gegenüber diesem. Solche Gesinnungssysteme sind aber meist kalkulierbar, Charaktere sind stereotypisiert, die „richtigen“ und „falschen“ Antworten sind offensichtlich. Elementare Auswirkungen auf den Spielverlauf haben Entscheidungen hier kaum.
Es gibt auch Ego-Shooter, in denen die Spielenden die moralischen Grenzen ihres Handels für sich festlegen müssen. Bekanntester Vertreter ist Bioshock. Hier werden die Spielenden vor die Entscheidung gestellt, kleine Mädchen (Little Sisters genannt) qualvoll zu töten, um an eine Art Droge zur Verbesserung der eigenen Fähigkeiten zu gelangen. Auch hier sind die Auswirkungen auf den Spielverlauf nur gering. Die Droge erleichtert den Spielenden das Spiel, zwingend notwendig ist sie aber nicht.

Anders ist das bei Heavy Rain. Die Geschichte entwickelt sich basierend auf der Summe der Entscheidung der Spielenden. Die Folge: Die Spielenden werden zu einem Teil des Spiels, identifizieren sich mehr mit ihrer Spielfigur. Durch die zahlreichen alternativen Handlungsstränge erhalten die Moralentscheidungen hier zusätzliches Gewicht. Das Spielerlebnis wird realistischer und intensiver. Die Spielenden sitzen nicht mehr nur vor einem Spiel, dessen Ausgang sie von vorn herein kennen, sondern fangen an über ihre Entscheidungen nachzudenken, für und wider abzuwägen. Möglicherweise bereuen sie gemachte Entscheidungen auch.

In Heavy Rain müssen die Spielenden zahlreiche moralische Entscheidungen treffen.

In einer Szene zu Beginn von Heavy Rain beispielsweise betreten die Spielenden in der Rolle des Privatdetektivs Shelby einen kleinen Laden. Kurz darauf wird dieser von einem jungen Mann mit Waffe überfallen. Die Spielenden bestimmen den weiteren Verlauf. Eine Möglichkeit besteht darin, den Kriminellen zu überwältigen. Gelingt das, bleibt der Verkäufer unverletzt und gibt zum Dank wertvolle Hinweise zum Origami-Mörder. Als zweite Möglichkeit können die Spielenden es mit Psychologie versuchen. Reden sie bedacht auf den Kriminellen ein, flieht dieser. Wieder bleibt der Verkäufer unverletzt und gibt die wertvolle Information. Abgesehen davon können sich die Spielenden aber zum Beispiel auch ganz aus dem Vorfall heraushalten und nichts tun (Möglichkeit drei). In dem Fall wird der Verkäufer erschossen, der Kriminelle flieht, Informationen gibt es nicht. Die Reaktionen der Charaktere, mit denen die Spielenden interagieren, sind nur schwer vorhersehbar. So kann es auch passieren, dass Möglichkeit eins oder zwei scheitert.
Hier geht es nicht mehr nur um die reine Gesinnung der Spielenden und ihrer Spielfiguren. Es wird nicht strikt zwischen „Gut“ und „Böse“ unterschieden. Es gibt auch kein „Karma-Meter“, das den Spielenden wie ein pädagogischer Zeigefinger die bösen Taten vorhält. Es geht um moralische und emotionale Entscheidungen, die wie in der Realität teil unvorhersehbare Konsequenzen für den weiteren Handlungsverlauf mit sich bringen. Den Höhepunkt einer Konfrontation mit den eigenen Wertevorstellungen bieten Entscheidungssituationen, bei denen ein Leben gegen ein anderes abgewogen werden muss. So werden die Spielenden in Heavy Rain in der Rolle des Ethan vom Origami-Mörder aufgefordert, selber zu töten, um das Leben ihres entführten Sohnes zu retten.

Noch sind derartig komplexe Computerspiele selten und weitestgehend der Erwachsenenunterhaltung vorbehalten. Ein Grund liegt in den hohen Produktionskosten, die mit den zusätzlichen Handlungssträngen einhergehen. Potential hätte das Thema Moral aus pädagogischer Sicht aber allemal. Die Entscheidungsfindung in Computerspielen könnte mit Jugendlichen diskutiert werden und so die Reflexionsfähigkeit in Bezug auf Computerspiele schärfen. Im Ethik- beziehungsweise Religionsunterricht würde sich das Thema geradezu anbieten, sollten weitere, sich für eine jugendliche Zielgruppe eignende Spiele dieser Art erscheinen. Der Erfolg von Heavy Rain lässt zumindest auf einen zukünftigen Trend hoffen.

Weiterführende Links


Spielbesprechung Mass Effect 2

Spielbesprechung Heavy Rain

Spielbesprechung Bioshock

Weblink

Moral und Ethik in Computerspielen

Anne Sauer
Dieser Artikel wurde verfasst von:

Siehe auch

Barcamp Ethik & Games

„Du bist die Kuh aus Minecraft!“

Wenn sich Jugendliche in der Rolle eines Non-Player Characters zu einer Selbsthilfegruppe treffen, ist das vor allem eins: unterhaltsam. Die sonst vergessenen, ignorierten oder den Launen der Spieler ausgesetzten Charaktere können ihrem Leiden endlich einmal Ausdruck verleihen. Einmal ein Zombie oder ein Sim sein? In einer Session des Barcamps war das möglich.

Spielbeurteilung

Heavy Rain

Wie weit würdest du für das Leben eines geliebten Menschen gehen? Heavy Rain stellt die Spielenden vor moralische und ethische Grundsatzfragen. Emotional bewegendes Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven und Ausgängen. Anspruchsvolle Unterhaltung für Erwachsene.

Bildnachweise

[1]Spielbar.de[2]igdb.com, Press Kit Heavy Rain[3]Jürgen Sleegers

6 Kommentare

Rollenspiel schreibt:

Hallo, sehr interessanter Eintrag, der zum Nachdenken anregt.

11.06.2010 um 11:36
Dieter F. schreibt:

Spoiler!

21.06.2010 um 21:31
Gerrit Neundorf schreibt:

Hallo, schöner Artikel!

Wir haben vor geraumer Zeit die spannenden Diskussionen um Moral und Computerspiel am Beispiel von COD: Modern Warfare 2 (im speziellen des sogenannten "Flughafenlevels") mit viel Interesse verfolgt. Ganz besonders spannend waren die Interpretationen und Darstellungen gerade in den gamernahen Spielezeitschriften und Onlineplattformen. Wir haben damals einen kleinen Artikel dazu im Medienpädagogik-Praxis Blog veröffentlicht: http://bit.ly/Angst_vor_der_Kritik
Wir sehen die Möglichkeiten Moral und Ethik auch oder gerade mit Computerspielen zu vermitteln als große Herausforderung und spannende Aufgabe der (Medien-)Pädagogik.

viele Grüße
Gerrit Neundorf

13.07.2010 um 15:39
maja schreibt:

hi Gerrit,
das ist so ein spannendes und wichtiges Thema gerade in Zeiten in denen Jugendliche sich wg. irgendeiner blöden Internet-Läster-Seite verprügeln. Also danke für deinen Link. Ich kann das nicht verstehen und finde diese Entwicklung sehr bedenklich. Erwachsene können mit dem Thema wahrscheinlich besser umgehen als Teenager.

01.04.2011 um 11:39
Ulrich schreibt:

Nicht zu vergessen viele Spiele von Peter Molyneux, vor allem Fable 1-3, Black & White 1-2. Hier kann sich der Spieler bei vielen Quests zwischen "guten" und "bösen" Lösungswegen entscheiden. Das Spiel selbst belohnt und bestraft die Wahl nicht, formt aber den Spielcharakter danach. Bei sehr homogenen Entscheidungen ist der Charakter dann entweder ein strahlender Held oder ein beeindruckender Bösewicht, beides ist auf seine eigene Weise attraktiv und im Spiel nützlich. Hier kann sicherlich mit jungen Spielern bestens über die Faszination am Bösen und den Wunsch, Gutes zu tun, reflektiert werden.
Ähnlich ist es übrigens bei vielen Rollenspiel-Adventures von Bioware: Jade Empire, Dragon Age etc.

01.04.2011 um 12:19
Stephan Schölzel schreibt:

Zu dem Thema Moral in Spielen kommt mit immer Daniel Floyds „Video Games and Moral Choices“ Video in den Sinn. (http://www.youtube.com/watch?v=6_KU3lUx3u0) Inzwischen ist er mit seiner Show „Extra Credits“ bei the escapist unter Vertrag. (http://www.escapistmagazine.com/videos/view/extra-credits) – Beides mehr als einen Blick Wert.
Im Grunde sind es interessante und ziemlich gut gemachte Einsichten in die Welt des Gamedesigns.
Aber btt, also back to topic, Moral in Games:
Das Hauptproblem ist das in Spielen Moral meistens trivialisiert wird, vor allem durch das Karma-Meter“. Wie der, gelungene, Artikel oben ja schon feststellt führt ein Unterteilung der Entscheidungen in „gut“ und „Böse“ nicht zu moralischen Problemen die Entscheidungen verlangen sondern zu Berechnung von Absichten. Ein „Karma-Meter“ spiegelt weniger die Gesinnung des Charakters wieder sondern ist vielmehr eine Art „Talentbaum“ den man durch Spezielle Erfahrungsprunkte in Gesprächssituationen und der Interaktion mit anderen Figuren des Spieles freischaltet. Besonders auffällig ist das in den „Knights of the Old Republic“, einem Star Wars Rollenspiel von Bioware. Das „Karma-Meter“ fungiert dort nicht nur als Indikator wie NPCs auf den Spieler reagieren oder welche Möglichkeiten es dem Spieler als Entscheidung anbietet, was auch funktioniert, sondern es „belohnt“ den Spieler dafür wenn er einer Gesinnung verfällt. Wer wirklich ein Böser Jedi Ritter, bzw. Sith, ist der bekommt Zugang zu mächtigen Attacken, und vise versa für besonders gute Charaktere. Zudem gibt es noch Prestige-Klassen die nur dann benutzt werden können wenn man einer Gesinnung wirklich verfallen ist. Dieses an das „Karma-Meter“ gekoppelte Belohnungssystem reduziert das gesamte Modell moralischer Entscheidungen auf rational Berechnende Entscheidungen mit klaren Absichten– und solche haben mit Moralischen Fragen eher weniger zu tun. Das oben erwähnte Video schlägt hierfür übrigens einfache Lösungsansätze vor, Ein „Karma-Meter“ das mehr als 2 Dimensionen kennt oder noch simpler, das klassische Gut/Böse „Karma-Meter“ behalten, dem Spieler aber das unmittelbare Feedback von eben diesem vorenthalten.
Ein weiteres großes Problem entsteht dann wenn die Ansichten über Gut und Böse von Spiel und Spieler auseinandergehen und oder man nur die Wahl zwischen extremen hat. Das Problem mit den Extremen zeigt Bioshock leider zu gut, je nach dem Umgang mit den Little Sisters bekommt man am Ende entweder ein Gutmenschen Ende voller Kitsch oder eben eines in dem Mann als Babyfressender Mörder dargestellt wird. Ein anderes Beispiel für die Wahl zwischen Extremen und der Definition von „gut“ die einem das Spiel vorsetzt findet sich in Fable 3. Der Spieler hat ab einem gewissen Punkt quasi die Wahl ein guter Herrscher zu sein, sein Volk zu lieben und die letzten Tage bevor „das Böse“ passiert, ich will nicht unnötig Spoilern, in Glück und Harmonie zu verbringen. Oder er knechtet sein Volk, und rüstet für „das Böse“, dafür ist er dann auch der Böse. Wo ist der einfache Weg der lauten müsste „Kläre dein Volk auf das eine dunkle Zeit bevorsteht die aber, wenn man durchhält, endet und alle danach in Frieden und Glückseligkeit weiterleben können“. Böse ist in Fable 3 wer langfristig denkt.

Es gibt, meines Erachtens, zwei Spiele die es besser machen: Zum einen das im Leitartikel oben bereits erwähnte Heavy Rain. Ein Spiel bei dem man sich über den Begriff „Spiel“ streiten kann, nicht aber darüber, dass es das schafft was Generationen von Spielen eher Erfolglos versucht haben: Eine echte emotionale Bindung zwischen den Spielfiguren und Spieler zu erzeugen, direkte und indirekte „echte“ Konsequenzen durch Entscheidungen und die Leitfrage des Spiels, „how far you’re willing to go to save someone you love“, ist eine echte moralische Frage. Der obige Artikel hat quasi alles Nötige zu Heavy Rain in diesem Kontext gesagt.
Der andere Titel ist Fallout 3, das den Spieler oft vor Entscheidungen stellt die weder Richtig noch Falsch sind, also echte moralische Fragen. Aber in besondere warum Fallout 3 seine Sache mehr als gut macht erklärt das oben verlinkte Video perfekt. Zudem erklärt es warum das Thema aus „Gamedesign“ Sicht etwas heikel ist und funktionieren kann.

01.04.2011 um 13:08


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